Martin Luther der Rebell um des Glaubens willen

Damit Menschen ihren Glauben ohne Angst und mündig leben können. Diesen Martin Luther wieder ins Bewusstsein zu rufen, passt gerade jetzt sehr in unsere Zeit, in der vielfältig darüber diskutiert wird, ob wir Menschen Zuflucht bieten oder sie ausschließen sollten.  (Standort: 35410 Hungen Kirchberg 11)

Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen an die Kirchentür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug wollte er eine Diskussion in Gang setzen, an deren Ende eine Veränderung von Kirche stehen sollte. Vieles ist ihm gelungen: 

Er war maßgeblich einer derjenigen, die an der Brücke, die vom Mittelalter in die Neuzeit führt, mit gebaut haben. Er hat für die Unterprivilegierten und Ausgeschlossenen gekämpft. Dabei hat er sich nie als den Held gesehen, zu dem ihn (besonders) das wilhelminische Deutschland gemacht hat.

Dennoch verdanken wir ihm viel. In diesen Tagen (August 2016) kommt eine neu revidierte Lutherbibel heraus. Für unzählige Menschen ist sie Kraftquelle ihres Glaubens. So soll auch die Bibel- das erste, was man von dem Nonnenröther ‚Luther Denk-mal‘ sieht- darauf aufmerksam machen: Sola Scriptura. Allein die Schrift … Wenn man von Hungen aus dem Wald kommt, wird Luther über einen Kilometer zu sehen sein. So schaut er ins Tal – Richtung Worms.

Aber wer ihn näher anschaut, sieht auf seiner linken Brust den Davidstern. Luther und seine Judenschriften sind ein Stolperthema im Blick auf das Reformationsjubiläum. Vermutlich ist diese Statur die erste Luther-Skulptur in Deutschland, der Aspekte einer verhängnisvollen Wirkungsgeschichte ‚anheftet‘. Daher möchten wir unsere fast 350 cm hohe Figur immer mit einem Bindestrich benennen: Luther-denk-mal

Neuestes Forschungsergebnisse zeigen: In Luthers Auseinandersetzung mit dem Judentum ist eine Lebenslinie von Polemik und Gewalt-Rhetorik seit den frühen 1520er Jahren erkennbar. Deshalb haben wir uns entschieden einen jüngeren Luther zu skulptieren. Hinzu kommt, dass Luther, als er die zum Reichstag nach Worms durch Nonnenroth zog 37 Jahre alt war. Betonen wollen wir: Luther war nicht der Urheber von Antijudaismus. Dies beginnt bereits im Neuen Testament. Aber er und die evangelische Kirche – die teils auch noch seinen Namen trägt – stehen in Mitverantwortung für das, warum Menschen den Davidsterntragen mussten und was an antijüdischen Gewaltmaßnahmen im 20. Jahrhundert geschah. Dass es Menschen aus Weißrussland sind, die diese Figur geschnitzt haben bewegt uns besonders. Kein anderes Land in Europa hat solche Opfer gebracht. Jede dieser Figuren ist eine ausgestreckte Hand zur Versöhnung. Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. Diese Lutherfigur will in besonderer Weise dazu ermutigen


Aspekte einer verhängnisvollen WirkungsgeschichteDie Rezeption von Luthers »Judenschriften« im 19. und 20. Jahrhundert

Luther und seine Judenschriften – ein Stolperthema im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017? Berndt Hamm zieht ein vorläufiges Resümee zum Stand der Debatte.1

1. Präsent und nicht präsent

Luthers Judenschriften sind im 19. und 20. Jh. offensichtlich sowohl präsent als auch nicht präsent. Das gilt nicht nur für seine frühe Schrift von 1523 »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«, sondern insbesondere auch für seine Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) und die anderen massiv antijudaistischen und mit ihrer sozial ausgrenzenden Intention auch scharf »antisemitischen« Spätschriften Luthers (zur Terminologie vgl. unten Punkt 5).

Auf diese späten Judenschriften Luthers wird literarisch nicht in der Erweckungsbewegung, nicht im konfessionellen Neuluthertum und bemerkenswerterweise auch nicht in jüdischen Lutherdeutungen des 19. Jh. eingegangen, auch so gut wie nicht in den akademisch-theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit des 20. Jh., kaum im Schrifttum der Bekennenden Kirche und nur selten in den Lutherbiographien der beiden Jahrhunderte. Daraus zu folgern, diese Autoren unterschiedlichster Einstellungen hätten von den scharf antijüdischen Spätschriften Luthers nichts gewusst und sie nicht, zumindest auszugsweise, lesend rezipiert, wäre allerdings ein Fehlschluss. Wie präsent Luthers antijüdische Invektiven in der Öffentlichkeit waren, zeigen jedenfalls die katholisch-theologischen Luther-Publikationen seit der Mitte des 19. Jh. Die – auch auf protestantischer Seite – intensiv rezipierten großen Luther-Biographien von Heinrich Denifle (1904/09) und Hartmann Grisar (1911/12) berücksichtigen eingehend den Antijudaismus von Luthers Spätschriften.

Andererseits gab es katholische Reformationsforscher wie Johannes Janssen (1829-1891), die dieses Thema übergingen – vermutlich nicht deshalb, weil ihnen die Äußerungen Luthers unbekannt waren, sondern weil sie die tiefe, epochale Zäsur zwischen Vorreformationszeit und Reformation hervorheben und dagegen die starke antijudaistische Kontinuität zwischen einer reformorientierten spätmittelalterlichen Religiosität und Luther nicht thematisieren wollten. Analog gab es auf evangelischer Seite parallel zum weitgehenden Verschweigen der antijüdischen Aggressivität Luthers einzelne wissenschaftlich seriöse Autoren wie z.B. den – stark historistisch arbeitenden – Erlanger Lutherforscher Theodor Kolde, die sich mit diesem Thema auseinandersetzten2

Man kann daraus den Schluss ziehen: Diejenigen protestantischen, katholischen und jüdischen Historiker des 19. und 20. Jh., die Person und Werk Luthers darstellten und bewerteten und dabei auf Luthers Judenschriften überhaupt nicht oder nur auf die vergleichsweise moderate, meist als »judenfreundlich« charakterisierte Frühschrift Luthers eingingen, verfuhren kaum in Unkenntnis dessen, dass der späte Luther alles Jüdische dämonisierte, vor den Juden als verstockten Agenten Satans warnte und zu ihrer Verfolgung aufrief. Offensichtlich hat man diese Seite Luthers bewusst ausgeblendet, wobei verschiedenartige Motive eine Rolle gespielt haben dürften, z.B. das volksmissionarische Interesse unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung, das ein werbendes und gewinnendes Zugehen auf die jüdische Bevölkerung intendierte, oder der gesellschaftliche Prozess der Judenemanzipation und -integration im 19. Jh., den man bejahte und nicht durch ein Störfeuer Lutherscher Judenfeindschaft irritieren wollte, oder das verstärkte Aufkommen eines kulturellen, sozialen und rassischen Antisemitismus und der völkischen Gruppierungen seit dem ausgehenden 19. Jh., denen man durch eine Thematisierung des antisemitischen Luther nicht entgegenkommen wollte. Auch war sicher von Gewicht, dass sich die Lutherforschung des frühen 20. Jh. stark auf den Theologen Luther, und zwar insbesondere auf den jungen Luther der (gerade erst entdeckten) ersten Wittenberger Vorlesungen konzentrierte. Und nicht zuletzt dürfte der in seiner Aggressivität hemmungslose Luther vielen Lutherkennern peinlich gewesen und – verglichen mit dem, was man als sein reformatorisches Lebenswerk wahrnahm – auch marginal vorgekommen sein. So ist es bezeichnend, dass Gerhard Ebeling, einer der meistgelesenen Lutherforscher nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Problembereich des judenfeindlichen Luther auswich und etwa in seinem weit verbreiteten Buch »Luther – Einführung in sein Denken« (Erstauflage 1964) das Thema »Luther und die Juden« mit keinem Wort berührte.

2. Verfälschende Rezeption

Parallel zur mehr oder weniger kalkulierten Nicht-Erwähnung der Judenschriften Luthers verlief ihre verfälschende Rezeption. Die Verfälschung der antijüdischen Invektiven Luthers trat besonders krass in der völkischen Bewegung, im Nationalsozialismus und bei den »Deutschen Christen« zutage. Sie instrumentalisierten insbesondere Luthers agitatorische Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« im Sinne des Rasse-Antisemitismus und unterstellten dem jungen Luther noch Illusionen über das wahre Wesen des Judentums, das er erst nach eigenen Erfahrungen durchschaut habe. Zu Verfälschungen kam es aber auch da, wo man diesen Traktat und die zeitlich benachbarten anderen Judenschriften Luthers als emotionale Entgleisungen des alt gewordenen, kranken, durch Sorgen und ein Übermaß an Arbeit überreizten und wegen der ausbleibenden Erfolge der Judenmission enttäuschten und verbitterten Reformators deutete, der sich hier nicht mehr auf der Höhe seines reformatorischen Wirkens bewege.

Die verharmlosende Fehlinterpretation beginnt bereits, indem man die antijüdische Aggressivität als Spezialproblem des älteren Luther deklariert und marginalisiert. Dagegen zeigt sich, dass in der Auseinandersetzung Luthers mit dem Judentum eine Grundproblematik seines reformatorischen Wirkens, eine Lebenslinie von Polemik, Gewalt-Rhetorik und Aufrufen zu gewaltsamem Handeln seit den frühen 1520er Jahren erkennbar ist: gegenüber den »Papisten« und »Romanisten« (»Wenn wir Diebe mit dem Galgen, Räuber mit dem Schwert, Häretiker mit dem Feuer strafen, warum wehren wir uns nicht mit allen Waffen um so mehr gegen diese Drahtzieher des Verderbens, diese Kardinäle, diese Päpste, diesen ganzen Dreckhaufen des römischen Sodom, die unablässig die Kirche Gottes zerstören, und waschen unsere Hände in ihrem Blut […]«3), gegenüber den Bauern, »Schwärmern«, Türken und Juden (zur pauschalen Verteufelung der Letzteren, deren Verstockung es gebiete, gegen sie ohne Liebe und Erbarmen vorzugehen, vgl. bereits Luthers 1526 publizierte Auslegung von Ps. 1094 und im Kontrast dazu die Haltung der Straßburger Reformatoren Wolfgang Capito und Martin Bucer, die in einem Schreiben an Luther vom 26. April 1537 empfehlen, die Juden mit Milde und Barmherzigkeit zu behandeln5).

Gegen sie alle, die antichristlichen Teufelsmächte, ist, wie Luther betont, in diesen letzten Tagen vor der Wiederkunft Christi der apokalyptische Glaubenskampf als Vielfrontenkrieg zu führen, und zwar stets auch zugleich durch den bußfertigen Kampf gegen die Macht Satans im eigenen Herzen und in der Gemeinde Christi. Diese metaphysische und eschatologische Diabolisierung der Glaubensgegner, der die Diabolisierung Luthers und seiner Anhänger von katholischer Seite entsprach, wurde mit ihrem Gewaltpotenzial prägend für die europäische Konfessionsgeschichte des 16. und 17. Jh.

3. Kritische Lutherforschung

Die internationale protestantische Reformations- und Lutherforschung hat bis in die jüngste Zeit und z.T. noch bis heute die theologischen Zusammenhänge zwischen der aggressiven Erbitterung in Luthers späten Judenschriften und dem apokalyptisch-antisatanischen Grundcharakter seiner Theologie spätestens seit 1520 (seine Sicht des Papstes als Antichrist und die Bücherverbrennung vor dem Elstertor) nicht adäquat zur Sprache bringen können. Erst der niederländisch-reformierte Kirchenhistoriker Heiko A. Oberman hat seit 1981 auf diese Zusammenhänge im Werk Luthers vor dem Hintergrund der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Feindseligkeit gegen das Judentum aufmerksam gemacht6.

Wenn ich recht sehe, war er so der erste Historiker, der eine hohe Wertschätzung der Person und Theologie Luthers mit einer kontextualisierenden Interpretation seiner späten Judenschriften verband; genauer gesagt war er der erste, der deren gewaltgesättigten Antisemitismus weder gegenüber dem theologischen Hauptwerk Luthers isolierte und relativierte noch ihn als »nur« religiösen Antijudaismus entschärfte (als ob Gewalt dadurch weniger schlimm wird, dass sie durch religiösen Eifer motiviert ist) oder auf andere Weise den Skandal dieser Schriften verdrängte oder abmilderte – etwa mit dem oberflächlichen, nur eine Halbwahrheit formulierenden Argument, Luther sei in dieser Hinsicht »nur ein Kind seiner Zeit« und das Spezifische seiner Judenfeindschaft im Grunde »nur« ein Anwendungsfall seiner Rechtfertigungslehre gewesen.

Durch Oberman hat die protestantische Lutherforschung, insbesondere in Deutschland und in den USA, Anschluss an die internationale kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Luthers von jüdischer und katholischer Seite, aber auch an die Luther- und Reformationskritik eines Thomas Mann gefunden.

4. Bibelhermeneutische Entrechtung des Judentums

Zur Geschichte der verfälschenden Rezeption von Luthers Judenschriften gehört auch, dass man seine frühe Schrift von 1523 »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« im 19. und 20. Jh. vornehmlich als judenfreundlich und »wohltemperiert« wahrnahm und im Vergleich mit Luthers späterer Tonlage auch heute noch so interpretiert.

In der Tat hat sich der religionspolitische Umgang Luthers mit der jüdischen Seite im Laufe der Jahre eklatant verändert: von dem anfänglichen, aus der Feder eines Theologen ungewöhnlichen Aufruf zur gesellschaftlichen Judenduldung und -integration (ihnen zu gewähren, »untter uns tzu erbeythen, hantieren und andere menschliche gemeynschafft tzu haben«7) bis zum späteren Maßnahmenkatalog der völligen Entrechtung der Juden, der Konfiszierung ihres Schrifttums, der Zerstörung ihrer Wohnhäuser, des Verbrennens ihrer Synagogen und ihrer Vertreibung (»weg mit ihnen«)8 – ein Maßnahmenbündel, das die reale Vertreibungspraxis seit dem frühen 15. Jh. widerspiegelt und durch theologische Polemik zuspitzt.

Doch ist zugleich die bemerkenswerte Kontinuität in der Haltung Luthers zum Judentum von seinen theologischen Anfängen bis in die Spätzeit zu beachten. Unter der Dominanz seiner christozentrischen Perspektive und seiner christologischen Auslegung des AT war für ihn das Judentum stets eine Religion ohne Eigenwert und Existenzrecht, eine Religion, die durch die christliche Wahrheit der Schriftauslegung zum Verschwinden gebracht werden muss. Im Unterschied zu Johannes Reuchlin und anderen christlichen Hebraisten billigt Luther daher auch dem jüdischen Schrifttum, dem Talmud, der Kabbala und den rabbinischen Auslegungen der hebräischen Bibel, keinerlei Wert zu. Indem er sich in seinen ersten Vorlesungen mehr und mehr vom vierfachen Schriftsinn der mittelalterlichen Bibelauslegung abwandte, um schließlich nur noch den buchstäblichen Schriftsinn gelten zu lassen, und indem er, gerade auch für das AT, diesen sensus litteralisexklusiv mit dem christologischen Sinn identifizierte, reklamierte er die hebräische Bibel ausschließlich für die Christenheit und konnte der jüdischen Seite keine, wenn auch noch so begrenzte, Auslegungskompetenz auf einer historischen Literalebene der Bibelwissenschaft konzedieren.

De facto war dies die konsequente bibelhermeneutische Entrechtung des Judentums und in dieser Hinsicht eine neuartige Zuspitzung des christlichen Antijudaismus. Auf dieser Grundlage schrieb Luther seine »freundliche« Judenschrift von 1523. Ihr entgegenkommender und einladender Charakter erklärt sich nicht aus einer Wertschätzung des jüdischen Glaubens und jüdischer Menschen, sondern missionsstrategisch: Luther ist der Meinung, dass jetzt – anders als durch die unmenschlichen Zwangsmaßnahmen der römischen Kirche – zwar nicht alle, aber doch viele Juden durch das freigelegte Evangelium für den Christusglauben gewonnen werden können. Nicht nur die Kirche könne und müsse jetzt aus der »babylonischen Gefangenschaft« der »Papisten« befreit werden, sondern auch die Judenheit sei nun durch die Prediger des reinen Gotteswortes aus ihrer Verblendung zu befreien.

Dass sich Luthers Hoffnung nicht erfüllte, verursachte schon bald seine veränderte Einstellung zum Judentum: Er nahm Juden nicht mehr in erster Linie als willkommene Adressaten christlicher Mission wahr, die durch das Evangelium beschenkt werden, sondern primär als »Teufelsbrut«, als Agenten Satans und des Antichristen, die sich verstockt in die Phalanx der widergöttlichen Mächte dieser Welt einreihen.

5. »Antijudaismus« und »Antisemitismus«

Noch ein Wort zur Sprachregelung »Antijudaismus« und »Antisemitismus«. Der Begriff »Antisemitismus« ist genau genommen unsinnig, weil er sich – auch in seiner rasseideologischen Anwendung – immer auf Angehörige des Judentums bzw. auf Menschen mit jüdischen Vorfahren bezieht und nicht allgemein auf die »Semiten«, d.h. – nach dem heutigen, nicht mehr rassisch konnotierten, sondern sprachkulturellen wissenschaftlichen Sprachgebrauch – auf die Angehörigen der semitischen Sprachfamilie. Antisemitismus ist also immer Antijudaismus, aggressive Judenfeindschaft. In der internationalen Forschung hat sich aber mittlerweile der Begriff »Antisemitismus« in der Weise etabliert, dass er eine judenfeindliche Haltung bezeichnet, die Angehörige der jüdischen Religion bzw. ihre Nachfahren sozial ausgrenzt und rechtlich benachteiligt oder jedenfalls eine solche Ausgrenzung intendiert.

Wie das Mittelalter zeigt, konnte eine solche Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung auch rein religiös begründet sein. In diesem Sinne gehören auch Luthers antijüdische Spätschriften mit ihrem Aufruf zur Entrechtung, Enteignung und Austreibung der Juden in die Geschichte des Antisemitismus, da sie auf eine Ausgrenzung, ja auf ein Verschwinden der jüdischen Menschen aus den christlichen Städten und Territorien zielten. Die Christenheit sollte »judenfrei« werden. Dass dies – ebenso wenig wie die antike und mittelalterliche Judenfeindschaft – kein biologisch begründeter Rasseantisemitismus war, machte die Situation für die Menschen, die sich nicht taufen lassen, sondern Juden bleiben wollten, nicht weniger bedrohlich.

Die Begründungen des diskriminierenden, verfolgenden und mörderischen Antisemitismus wandelten sich mit dem Wandel der Zeiten und ihrer weltanschaulichen Koordinaten; konstant aber blieb sein e-liminatorischer (aus-grenzender) Charakter. Angesichts dieser heutigen Sprachregelung der internationalen Antisemitismusforschung ist es daher eine terminologische Verharmlosung, wenn gelegentlich immer noch betont wird, die Judenfeindschaft von Luthers Spätschriften sei rein religiös und theologisch (antijudaistisch) motiviert gewesen und sei deshalb kein Zeugnis von Antisemitismus. Besser wäre es – leider ein unrealistischer Wunsch –, wenn man auf den sprachlich irreführenden Antisemitismusbegriff völlig verzichten und ihn generell durch den Antijudaismusbegriff ersetzen könnte. Als »Antijudaismus« würde man dann alle (auch rasseideologisch agitierenden) Formen einer pauschal diskriminierenden und ausgrenzenden Judenfeindschaft bezeichnen, nicht aber eine legitime, begrenzte Kritik an bestimmten Phänomenen der jüdischen Religion oder der Politik des Staates Israel.

6. Instrumentalisierung

Man bediente sich der Judenschriften Luthers dann, wenn man sie zur Stärkung der eigenen Position brauchte, und man bediente sich ihrer in der Weise, wie sie den eigenen kirchlichen, theologischen, ideologischen oder gesellschaftspolitischen Interessen am besten dienen konnte – oder man ließ sie völlig beiseite, weil sie solchen Intentionen zuwiderliefen oder sie nicht argumentativ-legitimierend unterstützen konnten.

Diese Beobachtung gilt für den gesamten Zeitraum zwischen der Abfassung der Schriften und der Gegenwart. So konnte man im frühneuzeitlichen Luthertum auf Luthers Traktat »Von den Juden und ihren Lügen« zurückgreifen, um die Duldung von Juden durch Obrigkeiten zu bekämpfen; oder man konnte in Orthodoxie, Pietismus und Erweckungsbewegung die frühe Schrift Luthers zitieren, um das eigene missionarische Bemühen, Juden das Evangelium nahezubringen, mit Luthers Autorität zu untermauern. Besonders auffallend ist diese Instrumentalisierung von Luthers Judenschriften und seiner Autorität während des »Dritten Reiches« im Gegenüber von Deutschen Christen und Bekennender Kirche, die sich geradezu spiegelbildlich jeweils auf »ihren« Luther beriefen und ihn gegen ihre ideologischen Gegner ins Feld führten.

Das bedeutet aber, dass die Wirkung Luthers innerhalb der Rezeptionsgeschichte seiner Judenschriften sehr begrenzt war: Sie wurden rezipiert, um bestimmten Interessen und Absichten das Gewicht des großen Reformators zu verleihen; aber diese Interessenrichtungen waren unabhängig von Luthers Judenschriften bereits vorhanden und wurden nicht erst durch sie hervorgebracht, und sie haben auch die Dynamik der Ereignisse nicht verändert oder wesentlich verstärkt, sondern argumentativ und autoritativ unterfüttert.

7. Luther und der Nationalsozialismus

Diese These von der generell geringen Wirkung Luthers bei bisweilen starker Rezeption seiner Judenschriften ist vor allem und speziell auch auf die Instrumentalisierung seiner Judenfeindschaft durch den rasseideologischen Antisemitismus der Völkischen, der Nationalsozialisten und der »Deutschen Christen« anzuwenden und im Blick auf die Novemberpogrome von 1938 und die nationalsozialistische Judenvernichtung weiterzuführen.

Nachdem Luther im wilhelminischen Deutschland zum deutsch-nationalen Heros monumentalisiert worden war, ließen es sich die Völkischen nicht entgehen, auch den Judenfeind Luther in ihrem Sinne massiv zu rezipieren. Luthers Judenschriften haben aber diesen neuartigen rassebiologischen Antisemitismus nicht hervorgebracht, und die Nationalsozialisten hätten ihre Maßnahmen der Entrechtung und Eliminierung der deutschen und europäischen Juden auch ohne argumentative Unterstützung durch die Autorität Luthers geplant und durchgeführt. Für die Drahtzieher der Verbrechen waren Luthers Judenschriften nur ein völlig marginaler Aspekt.

Insofern ist kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Luthers aggressiver und zur Gewalt aufrufender Judenfeindschaft und der antijüdischen Gewalt des NS-Staats nachzuweisen. Auch die brennenden Synagogen der Novemberpogrome 1938 können nicht kurzschlüssig als Effekt von Luthers agitatorischer Empfehlung, die Synagogen zu verbrennen, verstanden werden, obwohl die Parallelität bestürzend ist.

Allerdings ist dies nur eine oberflächliche Sicht, und die kausalen Zusammenhänge dürften komplizierter sein. Der mörderische Rasseantisemitismus der Völkischen entstand in Deutschland auf der Grundlage eines jahrhundertelangen christlichen Antisemitismus, der im ausgehenden 19. Jh. eine stark nationalistische und kulturkritische Einfärbung erhielt. Im Milieu des deutschen Luthertums und darüber hinaus allgemein im deutschen Nationalprotestantismus verband sich dieser religiös-national-soziokulturelle Antisemitismus, besonders nach 1914, mit dem argumentativen Gewicht der judenfeindlichen Haltung Luthers. Und man kann vermuten, dass die monumentale Autorität Luthers eine Mitursache dafür war, dass der deutsche Protestantismus den antijüdischen Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten fast nichts entgegensetzte, auch 1938 weitgehend stumm blieb und dem Abtransport der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager (anders als den Euthanasieaktionen der Nationalsozialisten) klaglos zusah.

Wo man im Sinne Luthers jahrhundertelang gehört hatte, dass das Judentum eine wertlose antichristliche Religion ist, die zum Leiden bestimmt ist und zum Verschwinden gebracht werden muss, empfand man das Leiden der Juden und ihr Verschwinden nicht als verstörend und empörend. Insofern waren die massive Judenfeindschaft Luthers und sein verheerender Maßnahmenkatalog, der auf ein völliges Verschwinden jüdischen Lebens aus deutschen Landen drängte, zwar nicht die causa efficiens für die nationalsozialistische Judenvernichtung, doch gehörte sie zu den Voraussetzungen, den causae sine quibus non, ohne die eine derartige totalitäre, auf die völlige Vernichtung jüdischen Lebens zielende Gewalttätigkeit nicht möglich gewesen wäre.

Die Rezeption der späten Judenschriften Luthers trug, insbesondere durch die populartheologische Vermittlung von Universitätstheologen und Pfarrern, ihren Teil dazu bei, dass in der Bevölkerung die mentale Hemmschwelle gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten abgebaut und die Toleranzbereitschaft, auch die Bereitschaft zum Wegsehen und die unbewusste »Fähigkeit« des Nicht-Wahrnehmens, erhöht wurden.

Anmerkungen:

1 Der Text stellt die überarbeitete Fassung eines Resümees zur Tagung »Die Rezeption von Luthers ›Judenschriften‹ im 19. und 20. Jahrhundert« dar, die vom 6.-7. Oktober 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg stattfand. Eine Rezension zum Tagungsband findet sich in dieser Ausgabe des Deutschen Pfarrerblatts.

2 Vgl. insbesondere Theodor Kolde: Martin Luther – eine Biographie, Bd. 2, Gotha 1889, 531-534.

3 »Si fures furca, si latrones gladio, si haereticos igne plectimus, cur non magis hos magistros perditionis, hos cardinales, hos papas et totam istam Romanae Zodomae colluviem, quae ecclesiam dei sine fine corrumpit, omnibus armis impetimus et manus nostras in sanguine istorum lavamus [vgl. Vulgata-Ps. 57,11], tanquam a communi et omnium periculosissimo incendio nos nostrosque liberaturi?« – WA 6, 347, 22-27 (Epitoma responsionis, 1520).

4 WA 19, 542-615. Vgl. dazu Christoph Bultmann: Luthers Betrachtung der Juden nach Psalm 109 und der evangelische Anspruch auf Schriftgemäßheit. Ein Nachtrag zu einer Veröffentlichung der VELKD, in: Luther 85 (2014), 179-193.

5 WA.B 8, 76-78, Nr. 3152; deutsche Übersetzung des lateinischen Briefs bei Bultmann, ebd., 191-193.

6 Heiko A. Oberman: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981; ders.: Luther – Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, bes. Kap. X, 5; ders.: Luthers Beziehungen zu den Juden: Ahnen und Geahndete, in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1526, hg. von Helmar Junghans, Bd. 1, 519-530, mit Anmerkungen in Bd. 2, 894-904.

7 WA 11, 336, 28f.

8 WA 53, 526, 7-14; 536,23-537,17 (Von den Juden und ihren Lügen, 1543).

Über den Autor

Prof. Dr. Berndt Hamm, Jahrgang 1945, Studium in Heidelberg und Tübingen, Promotion und Habilitation in Tübingen, Vikariat in Reutlingen, seit 1984 Prof. für Neuere Kirchengeschichte in Erlangen; Forschungsschwerpunkte: Frömmigkeitstheologie des 14. bis 16. Jh., Werner Elert und die Erlanger Theologie.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 6/2016

Nachfragen zur Kundgebung der 12. EKD-Synode
Martin Luther und die Juden

 

 

 

 

Auf ihrer Tagung vom 8.-11. November 2015 verabschiedete die 12. Synode der EKD eine Kundgebung zum Thema »Martin Luther und die Juden«. Die veröffentlichten Thesen provozieren für Sören Widmann jedoch kritische Nachfragen – sowohl zur Wirkungsgeschichte von Luthers judenfeindlichen Äußerungen wie auch zur Stellung der Evangelischen Kirche in Deutschland während und nach dem Holocaust.

I. Luthers antijüdische Äußerungen – lange Zeit unbeachtet

Auf ihrer Tagung vom 8.-11. November 2015 verabschiedete die 12. Synode der EKD eine Kundgebung zum Thema »Martin Luther und die Juden«. Gleich in These 1 dieser Kundgebung wird festgestellt: »Die Reformation zielte auf eine Reform der Kirche aus der Kraft des Evangeliums. Nur in wenigen Fällen kam es dabei zu einer neuen Sicht auf die Juden. Die Reformatoren standen in einer Tradition judenfeindlicher Denkmuster, deren Wurzeln bis in die Anfänge der Kirche zurückreichen.« In diesem Sinne wird in These 6 festgestellt: »Luthers Urteil über die Juden war eingebunden in die abendländische Tradition der Judenfeindschaft. Zunächst wies er verbreitete Verleumdungen wie den Vorwurf der Hostienschändung und des Ritualmords als Lügengeschichten ab. Später kehrte er jedoch zu überkommenen Stereotypen zurück und blieb in irrationalen Ängsten und Ressentiments befangen.« Vor allem unter dem Eindruck der tatsächlich fürchterlichen Ratschläge von Luthers 1543 verfasster Schrift »Von den Jüden und ihren Lügen« wird in These 8 behauptet: »Auf Luthers Ratschläge konnte Jahrhunderte lang zurückgegriffen werden. (…) (Man) hat ... sich auf Luthers Spätschriften zur Rechtfertigung von Judenhass und Verfolgung berufen, insbesondere mit dem aufkommenden rassischen Antisemitismus und in der Zeit des Nationalsozialismus.«

Dieses Urteil befremdet umso mehr, als Johannes Wallmann im Deutschen Pfarrerblatt durch seine fundierte Untersuchung »Die Evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte«1, der ich hier weitgehend folge, nachgewiesen hat, dass Luthers antijüdische Spätschriften weder im Antisemitismus-Streit zwischen Treitschke und Mommsen (1879-81) noch in Stoeckers sozial-ethisch begründetem Kampf gegen das Judentum irgendeine Rolle gespielt haben2. Viel einflussreicher auf die protestantische Öffentlichkeit war damals die 1881 erschienene Schrift des späteren Berliner Theologieprofessors K. H. Christian Plath »Was machen wir Christen mit unseren Juden?«, in der dafür plädiert wird, die Juden sollten in brüderlicher Liebe, wenn auch eingeschränkt in ihren Amtsberechtigungen, unter den Christen in Deutschland wohnen bleiben.3Rassistischen Judenhass und Antisemitismus gab es im deutschen Kaiserreich erst ab ungefähr 1890 und von jüdischer Seite wurde darauf in der Gegenschrift ›Anti-Anti‹ ausgerechnet Luther als Judenfreund aufgeführt – insbesondere mit seiner Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« von 1523. Es blieb dem Nazi Julius Streicher und seinem Hetzblatt »Der Stürmer« vorbehalten, darüber Klage zu führen, dass auch im Luther-Jubiläumsjahr 1933 die antijüdischen Schriften Luthers nicht gebührend hervorgehoben wurden:»Leider ist zu beobachten, daß auch jetzt eine Seite seines Kampfes wieder ganz unberücksichtigt gelassen wird. In keiner der neuen Schriften (zum Luther-Jubiläum) wird erwähnt, daß Luther einen nahezu fanatischen Kampf gegen das Judentum geführt hat«.4

Erst durch den ›Stürmer‹ erfuhren evangelische Christen, die nicht ausgewiesene Lutherkenner waren, etwas über die beiden antijüdischen Schriften des Reformators aus dem Jahr 1543, nämlich über »Von den Jüden und ihren Lügen« und »Vom Schem Hamphoras«. Und noch im Dezember 1943 warnt »Der Stürmer« davor, dass die judenfreundlichen Protestanten eben ein Interesse daran hätten, »Luthers Kampf gegen das Judentum totzuschweigen.« Es sei daher notwendig, »Luthers judenfeindliche Äußerungen in das Licht der Öffentlichkeit zu bringen.«

Die frühe lutherische Orthodoxie freilich, z.B. Martin Chemnitz, hat sich unter Berufung auf Luthers antijüdische Spätschriften gegenüber den Juden durchaus intolerant verhalten, doch seit den beiden Gutachten der theologischen Fakultäten Frankfurt-Oder und Jena 1611, die sich für die Aufnahme spanischer Juden im Stadtstaat Hamburg aussprachen, kam es zu einem gewissen Meinungsumschwung und zur Betonung der judenfreundlichen Empfehlungen Luthers von 1523.

Viel eher ist jedoch bei den Reformierten eine judenfeindliche Tendenz zu beobachten, obwohl weder Zwingli noch Calvin einschlägige Judenschriften verfasst haben, da es sowohl in Zürich als auch in Genf gar keine Juden gab. So protestierte 1593 z.B. die Amsterdamer reformierte Synode heftig gegen die Aufnahme sephardischer Juden aus Portugal. Die Weseler Synode von 1582 und der reformierte Predigerkonvent aus Emden 1591 forderten sogar die Vertreibung der ­Juden.

Zu echter Toleranz der Juden kam es im Luthertum unter ausdrücklicher Berufung auf Luthers Judenschrift von 1523 erst durch den exzellenten Lutherkenner Philipp Jakob Spener (1635-1705). Sein Urteil wurde maßgebend für die ganze pietistische Bewegung. So findet sich auch in Gottfried Arnolds berühmter Schrift»Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie« von 1700 dieselbe Einstellung. Luthers Judenschriften von 1543 werden von Arnold sogar ausdrücklich als verwunderlicher Rückfall ins Mittelalter bezeichnet. Berühmt wurde vor allem Speners Hallenser Gutachten von 1702 in dem festgehalten wird »daß man unter den Christen dieselben (nämlich die Juden) wol in schutz aufnehmen/ und ihnen Wohnung verstatten könne… Wo man sie aber aufnimmt/ fasset solches mit in sich/ daß man ihnen auch die übung ihrer/ obwol verderbten/ religion lasse/ mit feyerung ihres sabbaths und feste/ lesung des gesetzes und der heiligen bücher/ beschneidung der Kinder und dergleichen/ nur daß man sie von der lästerung unseres Heilandes als viel geschehen kann/ abhalte«.

Speners Einstellung gegenüber den Juden blieb für die evangelischen Christen bis ins Dritte Reich maßgebend. Nicht zu unterschätzen ist jedoch der Einfluss, den Treitschkes und Stoeckers Antisemitismus auf konservative protestantische Kreise ausübte. So konnte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm noch im Dezember 1938(!), also nach dem Pogrom vom 9. November, an den Reichsjustizminister schreiben: »Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Rechtdas Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem, sittlichen, literarischen, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für zutreffend gehalten.« – Aber auch von der historisch-kritischen Theologie drohte Gefahr. 1923 war Adolf von Harnacks Marcion-Buch »Das Evangelium vom fremden Gott« erschienen. Dort kommt Harnack zu der Schlussfolgerung: »Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die Großkirche zu Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische, dem Neuen Testament gleichwertige Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.«5

II. Luthers Vorliebe für das Alte Testament

Die EKD-Kundgebung betont in These 12: »Wir erkennen die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit unserem reformatorischen Erbe in der Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere des Alten Testaments«.Das klingt, als ob Luther das AT abgewertet hätte. Auch diese Einschätzung verwundert. Nach Paulus hat sich kein christlicher Theologe vor Luther und kaum einer danach so wie er intensiv der Auslegung des AT gewidmet. In den 25 Jahren nach 1519 hat er in seinen Vorlesungen neben zahlreichen Büchern des AT6 aus dem NT nur den Galaterbrief, den 1. Johannesbrief, den 1. Timotheusbrief sowie den Titus- und den Philemonbrief ausgelegt.

Luthers Vorliebe für das erste Testament zeigte sich noch stärker in seiner Predigttätigkeit. Er hielt Reihenpredigten über ganze atl. Bücher wie das 1. Buch Mose und das 2. Buch Mose (1523/24), über das 5. Buch Mose (1528/29), über das 3. und 4. Buch Mose (1527/28) sowie über die Psalmen 23 und 101 (1534-36). Luther hätte nicht über diese atl. Texte gepredigt, wenn sie nicht auch das Evangelium, die Verheißungen und göttliche Zusagen enthalten hätten. Die Mosebücher waren für ihn eben nicht einfach pauschal Gesetz, sondern boten eine vorzügliche Gelegenheit, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. Sie enthielten nicht nur Beispiele des rechten Glaubens, sondern auch gute weltliche Regeln, die man sich auch heute, so meinte Luther, zum Vorbild nehmen könne, neben Gesetzen, die allein für das jüdische Volk bestimmt waren.

Man darf überdies nicht vergessen, dass nahezu jeder lutherische Prediger Zugang zur sog. Kirchenpostille hatte, einer Sammlung von Auslegungen und Predigten Luthers für die Predigttexte des ganzen Kirchenjahrs. Ganz vorne in der Kirchenpostille stand die Vorrede Luthers zur Weihnachtspostille7, die alle wesentlichen hermeneutischen Grundsätze des Reformators zur Schriftauslegung enthielt. Daneben gab es andere hermeneutische Wegweiser Luthers wie z.B. »Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose sollen schicken« von 15258.

Unverständlich bleibt auf diesem Hintergrund die Aussage der These 11 der Kundgebung, man wolle»zentrale theologische Lehren der Reformation neu … bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums … verfallen. Das betrifft insbesondere die Unterscheidungen ›Gesetz und Evangelium‹, ›Verheißung und Erfüllung‹, ›Glaube und Werke‹ und ›alter und neuer Bund‹«. Luther wollte ja im Unterschied zur mittelalterlichen Kirche, aber auch im Gegensatz zu den »Schwärmern« zu differenziertem Schriftverständnis anleiten, das sich gerade auch mit genauer historischer Interpretation der Bibel gut verträgt. Konfessorischen Charakter hatte allerdings Luthers konsequent christologische Deutung des AT. Will man darauf nun allen Ernstes verzichten? Und wo landet man dann?

III. Die Schuld der Kirche gegenüber dem Judentum

In der These 9 heißt es: »Nach 1945 kam es in Deutschland zunächst zögerlich zu einem bis heute nicht abgeschlossenen Lernprozess der Kirchen bezüglich ihres schuldhaften Versagens gegenüber dem Judentum.« In der Tat enthält die Stuttgarter Schulderklärung vom 19. Oktober 1945 keinen direkten Hinweis auf den Holocaust, obwohl alle Theologen der Bekennenden Kirche nach 1945 über ihr Versagen gegenüber den Juden nach dem Pogrom vom 9. November 1938 sehr bedrückt waren. All jene, denen es z.B. in Württemberg gelang – es handelte sich um Frauen und Männer der Kirchlich-Theologischen Sozietät und der Bekenntnisgemeinschaft –, als Fluchthelfer wenigstens noch einige jüdische Frauen und Männer vor der Vernichtung zu retten, haben sich später nie ihrer Taten gerühmt. Deshalb begann auch die weithin vergessene Erklärung der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg bei ihrer ersten landesweiten Zusammenkunft nach Kriegsende, am 9. April 1946, mit folgendem Schuldbekenntnis: »Wir sind mutlos und tatenlos zurückgewichen, als die Glieder des Volkes Israel unter uns entehrt, beraubt, gepeinigt und getötet worden sind. Wir ließen den Ausschluß von Mitchristen, die nach dem Fleisch aus Israel stammten, von den Ämtern der Kirche, ja sogar die kirchliche Verweigerung der Taufe von Juden geschehen. Wir widersprachen nicht dem Verbot der Juden­mis­sion … Wir haben indirekt dem Rassedünkel Vorschub geleistet durch die Ausstellung zahlloser Nachweise der arischen Abstammung und taten so dem Dienst am Wort der frohen Botschaft für alle Welt Abbruch.«9

Einer der Verfasser dieser Schulderklärung der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg, Pfarrer Paul Schempp, hatte schon Anfang 1931 – also rund 50 Jahre vor dem Rheinischen Synodalbeschluss! – bei der Gründungsversammlung der Kirchlich-Theologischen Arbeitsgemeinschaft (KTA) – in seinem Grundsatzreferat betont: »Daß Jesus Jude war, und zwar der Messias als Jude, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die christliche Kirche an das Judentum gebunden ist und bleibt«.10 Aus der KTA ging 1934 die Bekenntnisgemeinschaft und dann 1935 die Kirchlich-Theologische Sozietät in Württemberg hervor. Beide Zusammenschlüsse wollten nach Barmen in der württembergischen Landeskirche mit der reichsweiten BK Schritt halten. Das Jahr 1938 wurde für diese beiden Zusammenschlüsse jedoch zum Schicksalsjahr.

IV. Kampf gegen den Treueid auf den Führer

Am 10. April 1938 hatte Landesbischof Wurm in engem Kontakt mit dem Stuttgarter NS-Reichsstatthalter Murr eine Denkschrift fertiggestellt, in der es um die »Möglichkeit und Notwendigkeit einer sofortigen Verständigung zwischen dem deutschen Staat und (der) Evangelischen Kirche« ging. Wegen der angepeilten Verständigung war Wurm auch an einem passablen Verhältnis zu Kirchenminister Kerrl und zu Dr. Werner, dem DC-Präsidenten im EOK in Berlin und in der Kirchenkanzlei der DEK, interessiert. In diesem Friedensschlusskonzept spielte die Vereidigung der evangelischen Pfarrer auf die Treue zum Führer und zum Gehorsam gegen die Staatsgesetze eine entscheidende Rolle.

Die DC-Bischöfe von Thüringen, Sachsen und Mecklenburg hatten schon im März 1938 mit der Treueidkampagne begonnen. Ihnen folgte Dr. Werner, der am 20.4.1938 die Pfarrer der APU zum Schwören aufrief. Die drei Bischöfe des Lutherrates (Marahrens, Meiser, Wurm) hatten sich dann bei ihrem Treffen am 8. Mai auf einen Treueid ihrer Pfarrer festgelegt. Am 20. Mai 1938 erließ Landesbischof Wurm das Gesetz über ein Gelöbnis an Eides Statt für alle Geistlichen und Beamten der württembergischen Landeskirche. Allen potentiellen Eidesverweigerern wurde der Verlust ihres Amtes angedroht.

Bereits bei ihrer Sitzung am 2. Mai 1938 hatte sich die Sozietät mit der bevorstehenden Vereidigung der Pfarrer befasst und ein Gutachten erstellt. Darin hieß es u.a.: »Im Raum der Kirche herrscht das Evangelium und darum darf hier nicht geschworen werden und kein Schwur verlangt werden«11 Im Falle der Übernahme des staatlichen Beamteneides wäre »das Recht zur Ausübung des Predigtamtes nicht mehr gebunden allein an den Gehorsam gegen Gottes Wort, sondern an den Gehorsam gegen eine außerkirchliche Gewalt … Die Kirche liefert damit ihr Schlüsselamt in dieser Sache an den Staat aus, und das in einem Augenblick, in welchem in Bezug auf den recht verstandenen Gehorsam gegen die Obrigkeit alle Fragen offen sind … Aus all dem folgt, dass es uns in der Kirche verwehrt ist, und zwar durch Schrift und Bekenntnis verwehrt ist, den Körperschaftsbeamteneid zu fordern und zu leisten.«12

Bei ihrer Sitzung am 23. Mai 1938 beschloss die Sozietät im Unterschied zur Bekenntnisgemeinschaft, den Treueid auf Hitler zu verweigern und dies vor ihren Gemeinden zu begründen. Die verweigernden Sozietätspfarrer verlasen am 19. bzw. am 26. Juni 1938 im Gottesdienst entweder eine persönliche oder eine vorformulierte Erklärung, mit der sie ihre Eidesverweigerung begründeten. Die Kirchenjuristen in Stuttgart griffen sich Hermann Diem und Paul Schempp heraus und überzogen sie mit einem Dienststrafverfahren. Während Diem mit einer Verwarnung davonkam, wurde das Verfahren gegen Schempp bis zur Amtsenthebung am 29.3.1939 durchgezogen.

Hitler wollte den Krieg. Am 12. September 1938 hielt er eine aggressive Rede vor dem Nürnberger Reichsparteitag. Am 27. September gab die zweite Vorläufige Leitung (Müller (Dahlem) und Albertz) eine von Asmussen entworfene Gebetsliturgie mit der Bitte um Frieden heraus. Die Gebetsliturgie brauchte jedoch nicht gehalten zu werden, da die unmittelbare Kriegsgefahr durch das Münchner Abkommen vom 30.9.1938 gebannt schien. Doch die Nazis ließen die BK nicht davonkommen. Am 27.10.1938 druckte die SS-Zeitung»Das Schwarze Korps« auf der ersten Seite den Text der Gebetsliturgie der BK ab und brandmarkte deren Herausgeber Müller, Albertz, Böhm und Forck als Landesverräter. Der Reichskirchenminister verfügte für die Genannten eine sofortige Gehaltssperre und strengte ein Verfahren zu deren Dienstentlassung an. Am 29. Oktober 1938 setzte Kerrl die Landesbischöfe Meiser, Marahrens, Wurm und Kühlewein so unter Druck, dass sie sich von den bedrängten Brüdern in der Leitung der BK distanzierten. Darauf verfasste DC-Präsident Werner eine triumphale Erklärung, in der er es so darstellte, als sei die BK durch diese Distanzierung endgültig erledigt. Bei der Sozietätssitzung am 12. November 1938 erarbeitete die Sozietät eine vorzügliche theologische Stellungnahme zur Gebetsliturgie. Zusätzlich wurde eine Solidaritätserklärung abgefasst, von 63 Sozietätsmitgliedern unterschrieben und dem Reichskirchenminister Kerrl zugeleitet. Darin hieß es: »Die durch das DNB (Deutsches Nachrichtenbüro) unter dem 10. November verbreitete Notiz über die Maßnahmen gegen die Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche veranlasst die unterzeichneten württembergischen Geistlichen, dem Herrn Reichskirchenminister folgendes zu erklären: Wir können in dem beanstandeten Entwurf zu einem Gebetsgottesdienst nichts erblicken, was uns zu einer Aufhebung der Gemeinschaft mit den Verfassern veranlassen könnte, sondern sehen darin ein im Wort Gottes begründetes Zeugnis. Unseren Gemeinden haben wir im Sinne der beiliegenden Erklärung von unserer Stellungnahme Kenntnis gegeben.«13

V. Weitgehendes Schweigen zu den Novemberpogromen

Dies alles war mutig, wichtig und wahr. Doch kurz vorher, am 9. November 1938, war es in ganz Deutschland zum offenen Juden-Pogrom gekommen. Die Synagogen brannten und viele jüdische Mitbürger kamen ins KZ. Dazu hatte die Sozietät am 12. November aber keine Stellung bezogen! Reichsweit hat wohl allein der Oberlenninger Pfarrer Julius von Jan in dieser Sache in seiner Bußtagspredigt vom 16. November Klares gesagt. Die letzten Sätze der damaligen Predigt von Jans lauteten: »Das eine Verbrechen in Paris (die Ermordung eines deutschen Botschaftsangehörigen) hatte bei uns in Deutschland so viele Verbrechen zur Folge. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes missachtet, Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt und zerstört, Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt haben, wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehören … So ist das Bekennen der Schuld, von der man nicht zu sprechen dürfen glaubte, wenigstens für mich gewesen wie das Abwerfen einer großen Last. Gott Lob! Es ist herausgesprochen vor Gott und in Gottes Namen. Nun mag die Welt mit uns tun, was sie will«.

Am 25. November 1938 wurde Pfarrer Julius von Jan von der Nürtinger SA und HJ brutal misshandelt und dann inhaftiert. Wegen des Verstoßes gegen das Heimtückegesetz wurde er ein Jahr später zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt und durfte sein Amt nicht mehr ausüben.

Völlig untätig ist die Sozietät in der Sache freilich nicht geblieben. Sie verteilte ab Dezember 1938 das »Memorandum zur Judenfrage« des Basler Pfarrers Wilhelm Vischer und Karl Barths Wipkinger Vortrag vom 5.12.1938, in dem dieser Vischers neue Israeltheologie teilte. Zu ihrer Tagung am 12. Februar 1939 lud die Sozietät Wilhelm Vischer ein, obwohl dieser im Reich Redeverbot hatte. Mitten in Nazi-Deutschland blühte so die neue Israeltheologie nach dem schlimmen Pogrom vom 9.11.1938 auf!

Die Gestapo von Württemberg-Hohenzollern vermerkte dazu in ihrem Geheimbericht an den Reichsführer SS: »Die kirchlich-theologische Sozietät, der extreme Flügel der BK, gab an seine Anhänger und die zuverlässigen Glieder der Gemeinden eine Vervielfältigung einer scharf und grenzenlos prosemitischen Schrift ›Das Heil kommt von den Juden‹ heraus, die von dem berüchtigten Theologen Professor Karl Barth, Basel, verfasst worden ist.«14 Das wenige, was danach im Krieg für die Flucht von untergetauchten Juden aus Deutschland getan werden konnte, bewirkten Sozietät und Bekenntnisgemeinschaft gemeinsam in engem Schulterschluss. Schließlich musste man sich dabei aufeinander verlassen können. Als einziger Sozietätler wurde Pfarrer Richard Gölz aus Wankheim am 23.12.1944 wegen Beherbergung verfolgter Juden verhaftet und bis kurz vor Kriegsende im KZ Welzheim festgehalten.

Auch wenn es sich bei dem Erwähnten nicht um eine stolze Ruhmesgeschichte handelt, sollten diese klaren Stellungnahmen der Bekennenden Kirche mitten im Dritten Reich über dem sicher wichtigen Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 nicht ganz vergessen werden.

Anmerkungen:

1 DPfBl 6/2014, 332ff, und DPfBl 7/2014, 382ff. – Wallmann greift dabei auf einen Vortrag zurück, zu dem er anlässlich des Lutherjubiläums 1983 vom American Jewish Comittee in New York eingeladen war. Wallmann berichtet: »Das Echo auf jüdischer Seite war überaus freundlich« (DPfBl 7/2014, 385).

2 DPfBl 7/2014, 382f.

3 DPfBl 7/2014, 383.

4 Der Stürmer, 11. Jahrgang, Nr. 46 vom November 1933, 4.

5 Adolf von Harnack, Das Evangelium vom fremden Gott, 1923, 217.

6 Kleine Propheten (1524/25), Deuteronomium (1523/24), Prediger (1526/27), Jesaja und Hoheslied (1528-31), Gradualpsalmen (1532), Jesaja 9 und 53 (1532), Hosea 13 (1532), Genesis 1-17 (1535-37), Genesis 18-30 (1538-42), Genesis 31-50 (1543-45).

7 WA 10,1.1; S. 8-18.

8 WA 16, S. 363-393.

9 Paul Schempp, Der Weg der Kirche – Dokumentation über einen unerledigten Streit (hrsg. u.a. von ASF), 1985, 25.

10 Sören Widmann, Die Kirchlich-Theologischen Arbeitsgemeinschaften (KTA) in Württemberg, in: Württembergs Protestantismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2005, 37f.

11 Gerhard Schäfer, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, 1971ff, Bd. V, 978-980.

12 Wie Anm. 11.

13 Theodor Dipper, Die Evagelische Bekenntnisgemeinschaft in Württemberg 1933-1945, Göttingen 1966, 255.

14 Paul Sauer, Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945, Bd. II, 1966, 53ff.

Über den Autor

Pfarrer i.R. Sören Widmann, Pfarrer der württ. Landeskirche, 1954-1958 Theologiestudium in Tübingen und Bonn, 1962-1969 Assistent an der Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen, 1969 Promotion über ein Lutherthema, 1969-1976 Studentenpfarrer in Stuttgart, 1976-1991 Religionslehrer und Fachberater für evang. Religionsunterricht an der gewerblichen Schule Göppingen, 1991-1998 Beauftragter für den evang. Religionsunterricht an beruflichen Schulen im Evang. OKR Stuttgart.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 6/2016